Kurzgeschichte


Friedrich

(undatiert, um 1970)


Der Laubwald läßt allmählich Blätter fallen, die leise niedersinken, sachte, unbemerkt. Die Städte scheinen jeden Morgen grauer, dunkler.

Häufiger wechseln sich Scharen von Vögeln ab am Horizont. Man fliegt gen Süden, ins Warme: Sonne, Meer, leuchtender Sand – in Sicherheit.

Auf den Feldern reiben sich die Bauern die behaarten Fäuste. Der Ostwind bläst dann kalt, schneidend.

Friedrich ist ein Sohn des schlesischen Landes, sehr jung, noch ohne richtig Lehm an den Stiefeln – verträumt, kindlich erwartungsvoll. Die Eltern sind viel draußen auf dem Feld. Sie ernten Kartoffeln, Gras, Futter für das Vieh – fleißig, strebsam.

Der Ostwind bläst heute härter, kälter. Friedrich schaut zum Himmel. Dicke Berge von Wolken ziehen ihre Bahn, sie bäumen sich unmerkbar auf, dunkel, prophezeiend. Er steckt die Hände tief in die Taschen, ihn fröstelt, da drinnen ist es wohler. Und seine Finger beginnen zu spielen mit den vielen nützlichen und weniger nützlichen Dingen darin:

Eine Rolle Bindfaden, zwei Murmeln, das Mundstück einer Pfeife oder Flöte, was weiß ich. Steine, ein Klappmesser, Gummiband. Eine Feder, die dem Truthahn des Bauern Schaffazyck gehörte, der wurde geschlachtet, der Truthahn, wegen der Hochzeit, dem Fest – Gesang, laut, fröhlich.

Und da steckt noch die kleine alte Mundharmonika, die Friedrich jetzt aus der Tasche zieht, heimlich liebkost, sie an den Mund setzt. Eine leise Melodie sinkt auf das kalte nasse Pflaster. Sie windet sich die schlüpfrige Regengasse entlang und verklingt dann an den tristen Wänden der bescheidenen Häuser.

„Friedrich! Komm rein! Der Wind ist eisig. Komm nur, komm. Du holst dir einen Schnupfen!“

Der Junge schaut auf. An der offenen Tür steht die Mutter, sie winkt mit der Hand, besorgt, beschwörend, gütig. Und so trottet er heim.

Das grelle Licht umflutet ihn, der Raum gibt Geborgenheit. Er geht zum Ofen, setzt sich, schmiegt sich hin zu den wohltuenden Kacheln, warm, mollig. Nur das Knacken im Fenster und das Säuseln unter der Tür erinnert an die kalte Hand, die zum Haus greift, zum Ort, zu Dörfern, Städten, zum weiten Land, alles frostig umklammern wird, erdrücken, auch den letzten warmen Fleck und Funken leise zu erdrosseln und dem Großen, Unbarmherzigen, Kalten, leise Schleichenden seine Bahn zu bieten.

Ein dämmriges Dunkel legt sich auf die Auen und Wiesen, erstickt das letzte Licht des Himmels, taucht die weite Landschaft in das schwarze, undurchdringbare Nichts der Nacht.

Friedrich sitzt neben den warmen Kacheln, eine Schüssel mit Klößen und Kapusta [Sauerkraut] auf den Knien, kaut langsam, bedächtig. Wärme, Gedanken sinken, schweben – schleichen heimlich umher.

Der Vater im Lehnstuhl ausgestreckt, lang, behaglich, das Ohr an den kleinen Empfänger geheftet. Er lauscht immer wieder, seine Augen zusammengekniffen, neugierig, erwartungsvoll.

Die Mutter flickt die zerschlissenen Kleider des Buben. Hier ein Loch, das er beim Klettern riss, dort fehlt ein Knopf oder war beim Raufen eine Naht gerissen. Die alte Stehlampe scheint auf ihre arbeitenden Hände, das gelbe Licht rieselt einfältig. Die alte Standuhr pocht unaufhörlich ihren Takt, unbarmherzig, warnend, ohne Aufenthalt, mit steter Hast – eilt zu einem Ziel, das ungewiss, fern, ungreifbar liegt.

Das Jammern des Windes ist abgebrochen, plötzlich verklungen. Das Klappern der Fensterläden verstummt. Friedrich hebt den Kopf, horcht auf wegen der plötzlichen Stille. Er sieht die Mutter an, fragend: „Was ist es, Mutter, was?“ Die Mutter schaut zu ihm, nickt sachte, beruhigend. „Nichts, Friedrich. Nur Er ist gekommen. Es war Zeit dafür.“

Friedrich schaut zum Vater, ratlos – bangt. „Sag Vater, wer ist Er?“ Der Vater nimmt den Hörer vom Ohr, neigt das Haupt. „Bis nach Krakow ist er schon gekommen. Ja, mein Jung, jetzt ist arge, böse Zeit. Die Bauern werden leiden, wir alle!“

Friedrich geht zum Fenster. Schaut. Nur dunkle Nacht, schwarz-grau, sachte schimmernd – nichts, oder doch?

Der Sessel ist weich, anheimelnd, kuschlig. Der Vater lehnt sich zurück, streckt die Arme vom Leib, nickt ein. Leise Töne, sie kommen dunkel beschwingt, klopfend, gleichmäßig.

Die Mutter, der vielen Arbeit müde, schließt die schweren Augenlider ein wenig, nur ein klein wenig und doch zu viel. Sie schlummert dahin, atmet leise, hat die Arbeit ihrer Hände fest im Schoß.

Friedrich drückt die kleine Stirn fest ans Fenster, sieht aber nichts, denn das gelbe Licht der Lampe spiegelt sich, blendet. Die Ungewissheit drückt den Jungen. Und er fühlt ein Ziehen und Drängen im Herzen. Und das Dunkle hinter der Scheibe ist so geheimnisvoll. Und Vater und Mutter rühren sich nicht. Das da Draußen lockt, ruft, greift nach ihm, packt ihn schließlich.

Friedrich durchzuckt es vor dem unerwarteten Kalt der Türklinke! Er zweifelt. Wer ist der Kalte, Unbarmherzige, der nach Leib und Leben greift? Brennende Neugier bricht aus – so zerreißend, drängend, unaufhaltsam.

Die Tür knirscht in den Angeln.

© 1970 johannes stephan wrobel - stephan castellio

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